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wäre sie mindestens eine Stunde gelaufen. Ohne Uhr konnte sie es
nicht genau sagen, aber es schien langsam dunkler zu werden.
Dieser Wald hatte nichts mit den lichten, heiteren Wäldern zu
tun, die sie kannte. Mit etwas Fantasie konnte sie sich vorstellen,
dass diese dicken, knorrigen Zweige die Arme nach ihr
ausstreckten.
Das sind nur Bäume, versuchte sie sich zu beruhigen. Kein
Grund, Angst zu haben. Der wahre Albtraum lag hinter ihr.
Sie musste sich auf etwas Praktisches konzentrieren, zum Beis-
piel darauf, einen Bach zu finden. Sie brauchte Wasser. Sie er-
schauerte, als die Blätter bei einem Windstoß über ihr raunten und
flüsterten. Rechts und links raschelte es in dem undurchdringlichen
Unterholz. Sie hoffte, dass es sich um freundliche Tiere handelte.
Hin und wieder kreischte ein Vogel und flatterte auf, wenn sie
näher kam. Wenn jemand versucht, mich aufzuspüren, kann er
mich nicht übersehen, dachte sie und schnitt eine Grimasse. Plötz-
lich hörte sie ein Dröhnen, das immer lauter wurde. Ein
Hubschrauber!
Maddie japste entsetzt und starrte nach oben. Sie wusste genau,
wer darin saß! Natürlich konnte Andrea Valieri nicht mit einem
Auto fahren wie jeder normale Mensch! Unter dem dichten Blat-
twerk war sie vor seinen Blicken verborgen, und bestimmt nahm er
an, dass sie noch immer sicher in ihrer Gefängniszelle saß.
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Trotzdem fühlte sie sich plötzlich so ungeschützt, als wäre sie nackt
auf einen Stein gebunden.
Es würde nicht lange dauern, bis er ihre Flucht entdeckte. Und
dann würde er Jagd auf sie machen. Wie ein Wolf. Wilde Angst dre-
hte ihr den Magen um.
Das wird noch eine Weile dauern, sagte sie sich beruhigend. Bis
jemand ihr Nachthemd entdeckte, würde er vielleicht erst einmal
denken, sie hätte sich irgendwo im Haus versteckt.
Maddalena!
Schon wieder ging ihre Fantasie mit ihr durch. Ihr war, als würde
der Wind mit Andreas Stimme ihren Namen raunen. Sie fing an,
am ganzen Körper zu zittern. Er darf mich nicht finden! dachte sie
panisch. Doch ihre größte Angst war nicht, wieder eingesperrt zu
werden.
Verzweifelt lief sie los. Sie ignorierte ihre schmerzenden
Muskeln, die mit Blasen bedeckten Füße. Immer schneller rannte
sie den steilen Pfad hinauf. Schließlich blieb sie keuchend einen
Moment lang stehen, um sich den Schweiß aus den Augen zu
wischen.
Plötzlich schien sich über ihrem Kopf ein Ast auf eine sehr selt-
same Weise zu bewegen. Ich brauche dringend Wasser! dachte sie.
Sie fing schon an zu halluzinieren.
Ich werde verrückt , sagte sie laut, doch dann erkannte sie, was
sich in dem Baum bewegte. Sie schrie auf und sah entsetzt die große
Schlange an.
Eine Schlange! Für einen Augenblick stand sie wie erstarrt, dann
drehte sie sich um und flüchtete in das Unterholz. Äste knackten,
plötzlich gab der Boden unter ihr nach. Zusammen mit Blättern,
Steinen und Erde rollte sie hilflos einen Abhang hinunter.
Das ist das Ende , dachte sie, dann prallte sie vor einen Baums-
tumpf. Sie blieb still liegen und versuchte herauszufinden, wie viele
Knochen sie sich gebrochen hatte.
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Schließlich setzte sie sich auf und sah sich um, ob die Schlange
ihr gefolgt war. Ich wusste nicht, dass es so was in Italien gibt ,
murmelte sie.
Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, aber alles schien einiger-
maßen zu funktionieren. Sie stützte sich auf dem Baumstumpf ab
und stand ächzend auf. Sie war zerkratzt, morgen würde ihr ganzer
Körper mit blauen Flecken übersät sein, und sie hatte sich den
Knöchel verstaucht, aber sie war nicht ernsthaft verletzt.
Als sie an sich heruntersah, bemerkte sie, dass zwei Knöpfe am
Kleid abgerissen waren. Der fleckige Rock war zerfetzt und klaffte
am Oberschenkel auseinander. Sie ließ sich auf den Baumstumpf
fallen, kämpfte gegen die Tränen an und wartete, bis sie aufhörte zu
zittern. Sie konnte nicht hierbleiben.
Inzwischen war es kälter geworden. Bald würde die Sonne un-
tergehen, und wenn es dunkel wurde, wollte sie auf keinen Fall
mehr im Wald sein. Sie sah sich nach einem geeigneten Wander-
stock um, dann humpelte sie los. Bei jedem schmerzenden Schritt
verfluchte sie ihr Pech.
Im Wald war es still geworden. Selbst die Vögel schwiegen.
Wahrscheinlich habe ich sie mit meinem Krach verscheucht, dachte
Maddie. Als sie eine Weggabelung erreichte, stützte sie sich auf
ihren Stock und überdachte ihre Möglichkeiten.
Der Pfad zur Rechten wirkte, als würde er etwas öfter genutzt,
der linke war vollkommen zugewuchert. Sie hatte keine Münze, die
sie werfen konnte, also folgte sie ihrem Instinkt und wählte den
zugewachsenen Weg.
Eine halbe Stunde später wurde die Vegetation plötzlich lichter.
Kurz darauf sah sie eine kleine Häusergruppe vor sich. Die Ziegel-
dächer leuchteten tiefrot im warmen Licht des Sonnenuntergangs.
Häuser! dachte sie. Menschen! Am liebsten wäre sie in die Luft
gesprungen und hätte vor Freude gejubelt. Sie hatte den richtigen
Weg gewählt.
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Als Maddie näherkam, fiel ihr auf, wie still es war. Keine Nach-
barn plauderten vor den Türen, kein Rauch stieg aus den Schorn-
steinen. Ihr Herz wurde schwer, als sie sah, dass die meisten
Häuser keine Fenster und Türen mehr besaßen. Die Dächer waren
eingefallen und löchrig. Dieser Ort war schon vor langer Zeit von
seinen Bewohnern verlassen worden.
Bis auf einen. Mitten auf der Straße lief ein Hund und kam auf sie
zu.
Wo gehörst du denn hin? wunderte sich Maddie. Auf jeden Fall
war er gut genährt. Bring mich zu deinem Herrn!
Sie schauten einander an. Erst jetzt bemerkte sie, wie groß das
Tier war. Die Farbe. Und vor allem die unverkennbare Form der
Schnauze. Ihr Lächeln verschwand.
Sie erinnerte sich wieder an das Gemälde über dem Kamin.
Oh Gott, dachte sie, oh Gott, hilf mir!
Vorsichtig machte sie einen zitternden Schritt rückwärts, dann
noch einen und noch einen, während der Wolf ihr aus seinen gel-
ben Augen aufmerksam zuschaute. Bleib ruhig! flüsterte eine
Stimme in ihrem Inneren. Notfalls hatte sie immer noch den Stock,
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